Statistik in Zeiten der Pandemie
Wissenschaftsforum-Ruhr-Veranstaltung am Montag, 21.06.2021 via Teams
Münzwurf und Feedbackschleifen
Referent Prof. Dr. Thomas Bauer vom RWI in Essen erläuterte in einer gut frequentierten virtuellen Veranstaltung die häufigsten statistischen Fallen, in die Öffentlichkeit und Journalismus bei der Interpretation der Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) zur Corona-Pandemie tappen.
Selbst zunächst niedrige und beherrschbar erscheinende Infektionszahlen können aufgrund eines exponentiellen Wachstums in kurzer Zeit zu einer nur noch schwer kontrollierbaren Pandemie führen. Deutlich wurde aber auch, dass sich die Epidemiologie zwar mathematischer Instrumente bedient, aber keine Mathematik ist. So muss der R-Wert, der angibt, wie viele Personen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, in nicht unwesentlichen Teilen durch geschätzte oder empirisch ermittelte Zusatzannahmen errechnet werden.
Die Forderung nach einer repräsentativen Panelstichprobe wurde leider nicht aufgegriffen. Ebenso sind Letalität und Mortalität der Corona-Erkrankungen von zahlreichen empirischen Faktoren abhängig, so dass man die Letalitäts- bzw. Mortalitätsrate niemals ermitteln können wird. Plastisch gemacht wurde ferner anhand eines Beispiels, dass selbst Schnelltests mit einer Sensitivität von 95 % und einer Spezifität von nahezu 100 % bei einer höheren Inzidenzrate (50 von 10.000 Personen seien infiziert) dazu führen, dass bei positivem Ergebnis die getestete Person mit einer größeren Wahrscheinlichkeit nicht infiziert ist. Man hätte also zuverlässiger eine Münze werfen können! PCR-Tests zur Verifikation oder Falsifikation sind demgemäß unerlässlich.
Abschließend machte Prof. Bauer deutlich, dass Prognosen methodisch darauf angelegt sind, sich in der Zukunft zu falsifizieren. Es handelt sich um Fortschreibungen gegenwärtiger Parameter, häufig zum Zwecke einer Warnung vor den Konsequenzen einer unterlassenen Verhaltensänderung. Erfolgen diese Verhaltensänderungen aufgrund der Prognose, ist die Prognose nur im uneigentlichen Sinne ‚falsch‘ und hat ihr Ziel erreicht. Konkret: Dass die prognostizierten Zahlen an Infizierten in einer Pandemie nicht eingetreten sind, macht die Epidemiologen nicht zu Scharlatanen, sondern vielmehr zu erfolgreichen Bekämpfern der Pandemie.
In der sich anschließenden Diskussion unter der Gesprächsführung von Prof. Dr. med. Dietrich Grönemeyer wurde deutlich, dass in der Zukunft repräsentative Stichproben im Laufe einer Pandemie (‚Panelstichproben‘) zu einer zuverlässigeren Ermittlung empirischer Faktoren wünschenswert sind, dass die mathematische Grundbildung in Deutschland verbessert werden und auch ein kompetenter Wissenschaftsjournalismus (den es ja in Teilen der Qualitätspresse schon gibt) in der Ausbildung weiterhin gefördert werden sollte.
→ Vortragsfolien von Prof. Dr. Bauer zum Download